Welt-Alzheimertag /Start in die Woche der Demenz 2020 - 21.09.2020:Ein Brief an das Pflegepersonal

Liebes Pflegepersonal,

 nun hab ich die Diagnose Demenz schriftlich. Ich habe es schon geahnt, wollte es jedoch lange nicht wissen. Ich bin zerstreut und meine Zettelwirtschaft wird immer größer. Wie lange noch kann ich allein und eigenständig leben? Wie lange noch kann ich meine Wünsche und Bedürfnisse ausdrücken? Mein Wunsch ist es in ein Pflegeheim zu gehen, wenn ich meinen Alltag nicht mehr meistern kann. Meine Kinder sollen ihr eigenes Leben leben dürfen.

Ich mache mir Gedanken wie mein Leben in einem Altenheim sein wird und weil ich nicht weiß, ob ich Ihnen dann noch mitteilen kann, was mir wichtig ist, schreibe ich Ihnen diesen Brief:

Ich versuche Ihnen meine Wünsche und Bedürfnisse mitzuteilen, in der Hoffnung, dass Sie darauf eingehen und wir gut miteinander kooperieren.

Ich bin ein Mensch, wie jeder andere. Mit Hoffnungen, Sehnsüchten und auch Eigenheiten. Ich bin ein Mensch, der sein Leben bis zur Erkrankung gut gemeistert hat. Eigenständigkeit und Selbstbestimmung war mir immer sehr wichtig. Wurde mir diese eingeschränkt, reagierte ich schon immer mit Rebellion. Meine Eltern schon hatten es nicht immer leicht mit mir. Jede Art von Druck erzeugte in mir Gegendruck. Ich frage mich, wie ich in meiner Demenz auf das Gefühl des Druckes regiere, wenn ich meine Hemmschwelle für soziale Normen verliere und wie Sie damit umgehen werden. Meine größte Angst ist, dass ich dann als „verhaltensauffällig“ abgestempelt und mit Psychopharmaka „mundtot“ gemacht werde.  Das würde ich nicht wollen und auch nicht verstehen. Vermutlich würde ich mich anfangs dagegen wehren und Ihnen die Tabletten entgegenspucken. Oder wenn ich noch lichte Momente habe, die Tabletten sammeln.

Das Wort „Du musst“ sollten Sie völlig aus Ihrem Wortschatz löschen, wenn Sie meine Kooperation erwarten. Ein beliebter Spruch von mir war schon immer: „Ich muss gar nix“. Ich glaube auch nicht, dass sich diese Lebenseinstellung in meiner Demenz ändert.

Ich werde jetzt gedanklich durch den Tag gehen und meine Bedürfnisse für Sie erfassen.

Morgens möchte ich gerne ausschlafen. Mein ganzes Leben lang habe ich gearbeitet und war an Zwänge gebunden. Im Alter würde ich gerne etwas länger schlafen, denn ich verpasse ja nichts. Außerdem sollten Sie wissen, dass ich etwas unleidlich werde, wenn man mich weckt. Und wenn ich unleidlich sage, dann ist das noch untertrieben, denn ich werde sehr übellaunig. Ich glaube nicht, dass ich dann bereit bin, mich an der Morgentoilette zu beteiligen oder diese zuzulassen.

Leider können Sie auch von mir in meiner Demenz nicht erwarten, dass ich kooperiere. Denn ich sehe nur mich und meine Bedürfnisse. Allen logischen Erklärungen kann ich nicht mehr folgen und ich bin blockiert von meinem Zorn und meiner Übellaunigkeit.

Lassen Sie mich jedoch ausschlafen und unterstützen Sie mich beim Duschen ohne (Zeit-) Druck, kommen Sie sicher gut mit mir klar.

Tägliches Duschen vor dem Frühstück ist für mich Alltagsnormalität. Manchmal habe ich zuvor eine Tasse Kaffee getrunken und ein Zigarettchen geraucht. Vielleicht erleichtert mir das das wach werden. Außerdem wäre es gut, wenn Sie mich dann auf die Toilette begleiten, denn dies ist zugleich mein „Abführmittel“. Bevorzugte Pflegemittel habe ich nicht. Aber wenn Sie mir ab uns zu einen Spritzer Chanel No 5 auflegen, gibt dies mir das Gefühl von Luxus. Ich liebe es!

Ich trage gerne bequeme Kleidung. Nichts ist schlimmer als wenn die Jeans den ganzen Tag kneift. Da ich dann bei Ihnen zu Hause bin, wäre es schön, wenn ich mich in meiner bequemen Kleidung wohl fühlen könnte. Wie sollte ich Ihnen denn in meiner Demenz mitteilen, dass die Hose kneift und ich mich nicht selbst aus dieser Situation befreien kann. Ein bequemer BH ist für mich äußerst wichtig! Schon immer fand ich es entwürdigend alte Menschen zu sehen, deren Busen ohne BH über den Bund hängt. Schon immer habe ich für mich beschlossen, dass ich das mal nicht so für mich haben möchte.

Ich bin kein eitler Mensch, aber meine Kleidung sollte sauber sein. Wenn Sie mich zu Veranstaltungen mitnehmen, dann wünsche ich mir schöne Kleidung. Das habe ich schon immer so gehalten.

Zum Frühstück esse ich gerne herzhaft. Brötchen mit Käse oder Wurst und zum Abschluss etwas Süßes – ein halbes Marmeladenbrötchen. Meinen Kaffee trinke ich schwarz! Bitte, das ist mir ganz wichtig! Ich trinke meinen Kaffee auch noch kalt, also räumen Sie ihn bitte nicht ab. In meiner Kindheit durfte ich zum Essen nichts trinken, „damit ordentlich gegessen wird“ – und erst nach dem Essen gab es ein Getränk. Also wundern Sie sich nicht. Seltsamerweise habe ich dies mein Leben lang so praktiziert.

Nach dem Frühstück würde ich mich gerne wieder ins Bett legen oder im Sessel dösen. Sie müssen mich jetzt nicht „aktivieren“. Im Fernsehen können Sie mir dabei gerne irgendeine schwachsinnige Talkshow einstellen, dabei kann ich besonders gut entspannen. Falls ich nicht vergessen habe, dass ich Raucherin bin, würde ich nach dem Frühstück gerne ein Zigarettchen rauchen. Leisten Sie mir dabei doch Gesellschaft!

Den Vormittag verbringe ich gerne in Ruhe und mit meinen eigenen Gedanken. Ich muss die vielen Leute Ihres Wohnbereiches nicht dauernd um mich herum haben. Sie müssen mich nicht integrieren, sondern ich bin gerne allein.

Auf das Mittagessen freue ich mich. Ich esse gerne. Man sieht dies auch an meiner fülligen Figur und ich hoffe Sie lassen mich nicht hungern um mich auf einen „normalen“ BMI zu bringen. Mein BMI war nie normal! Ich mag Hausmannskost, gerne Spaghetti und Hackfleischsoße, Schnitzel, Rouladen und Rotkohl, weniger mag ich zu Mittag Süßspeisen wie Pfannkuchen oder Reibekuchen. Ich weiß, in meiner Demenz kann die ganz anders sein. Probieren Sie einfach was geht.

Machen Sie meinen Teller bitte nicht zu voll. Als Kind musste ich immer den Teller leer essen, Vater saß drohend neben mir und zwang mir das inzwischen oft kalte Essen rein. Nötigen Sie mich bitte nicht! Darauf reagiere ich, wie schon anfangs beschrieben. Je mehr Druck, um so weniger erreichen Sie was Sie wollen.

Jetzt wäre ein Espresso gut. Der hilft mir mich wohl zu fühlen und setzt meine Verdauung in Gang. Zum Espresso ein Zigarettchen und Sie machen mich glücklich!

Mittagsschlaf habe ich nie gehalten, ich habe mich oft auf die Couch gelegt und habe mich berieseln lassen von irgendwelchen Talkshows. Ruhen war immer erholsamer, als schlafen (eben wegen dieser Übellaunigkeit). Für eine kuschelige Decke dabei, wäre ich Ihnen dankbar.

Ob ich den Nachmittagskaffee annehme weiß ich nicht, ich brauchte diesen nie. Aber ich komme schon mal auf die Idee am Abend Lust auf einen Kaffee zu haben. Schlafstörungen hatte ich deswegen nie.

Nachmittags hätte ich gerne Bespaßung! Dabei zu sitzen und zu beobachten, vielleicht Kommentare abzugeben, das reicht mir. Gymnastik war nie mein Ding und ein großartiger Sänger bin ich auch nicht. Für Spaß aber bin ich immer zu haben!

Abends möchte ich gerne ein Betthupferle auf meinem Nachttisch haben. Auch wenn ich es nicht esse, gibt es mir doch ein gutes Gefühl. Wenn ich nachtaktiv sein sollte, schonen Sie das Budget meines Hausarztes. Ich brauche keine Schlafmittel. Eine Weinschorle füllt Flüssigkeit auf und lässt mich wunderbar schlafen, Rotwein bevorzuge ich im Winter. Dazu hätte ich dann aber gerne ein Glas Wasser.

Ich frage mich woher Sie all diese für sie wichtigen Informationen herbekommen würden, wenn ich diesen Brief nicht geschrieben hätte. Ich glaube nicht, dass meine Tochter Ihnen diese Informationen hätte geben können.

Wenn Sie sich an diesen Informationen orientieren, kann ich mir vorstellen, dass wir gut miteinander auskommen. Vor allem fühle ich mich von Ihnen in meinen Bedürfnissen verstanden. Sich verstanden zu fühlen, hat auch etwas mit Wertschätzung zu tun. Meine eigene Lebenseinstellung ist wertschätzender Umgang mit allen Menschen. Ob es der Obdachlose auf dem Mainzer Domplatz ist, oder der Papst. Mein Lebensmotto war „Vor Gott sind alle Menschen gleich“. Ich wünsche mir, auch wenn ich Dinge tue, die Ihnen merkwürdig erscheinen, wenn ich mein gutes Benehmen vergesse, oder wenn ich den roten Knopf an der Klingel interessant finde, dass Sie dennoch respektvoll, also wertschätzend mit mir umgehen. Ich werde mich dafür entsprechend revangieren ! Denn wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus!

 

Viel Spaß mit mir!

 

Birgit Mai - Demenzfachberaterin - AWO Seniorenzentrum "Am Rosengarten" in Mainz

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